Anthroposphische Pflege ist nicht das Sahnehäubchen
Frau van der Star hat selbst 17 Jahre „am Bett" gepflegt und im Anschluss daran unzählige Altenpfleger:innen am Fachseminar für Altenpflege im Haus Aja Textor-Goethe ausgebildet und mit anthroposophischem Denken und Handeln in Berührung gebracht.
Ich wollte von ihr wissen, was genau anthroposophische Pflege ausmacht.
Stremlau: Frau van der Star, was genau kennzeichnet anthroposophische Pflege?
Van der Star: Es gibt keine anthroposophische Pflege als solche. Es gibt aber anthroposophische Gesichtspunkte, die die Pflege erweitern. Dabei handelt es sich nicht um ein Sahnehäubchen, was das Ganze wohliger macht, sondern es geht um einen ganzheitlichen, menschenkundlichen Ansatz. Die Ausbildung für den Beruf Altenpfleger:in am Fachseminar ist daher auch eine „Menschenbildung". Darin geht es u.a. darum, sich in die 4-Gliederung des Menschen nach Rudolf Steiner einzuleben, sie sich wirklich bewusst zu machen, um sie dann als Diagnostikum gezielt für den zu Pflegenden einsetzen zu können. „Physischer Leib, Lebenskräfte, Seele, Geist, wo ist gerade Unterstützung nötig?" Ich lerne, den Menschen mir gegenüber differenzierter anzusehen, geisteswissenschaftlich, mit seinem irdischen und seinem geistigen Anteil. Viele alte Menschen können sich nicht mehr richtig artikulieren, da muss ich als Pflegender mehr wahrnehmen als nur die geäußerten oder eben nicht geäußerten Worte.
Das heißt, Pflegende mit einem anthroposophischen Ansatz begegnen den alten Menschen anders?
Ja, wichtig ist die innere Haltung. Sehe ich den Menschen in seiner biographischen Situation und Würde, begegne ich ihm mit Respekt und Achtung. Das drückt sich zum Beispiel auch im Ton meiner Stimme aus. Ich begegne den alten Menschen auf Augenhöhe und lasse ihnen ihren eigenen Willen. Natürlich haben auch wir eine Tagesstruktur, einen Plan, der Kraft und Halt gibt. Aber ich versuche auch immer, heraus zu finden, was für diesen alten Menschen jetzt situativ das Beste ist. Dafür muss ich ihn immer wieder neu anschauen, neu erspüren und zusammen mit ihm entscheiden.
Das klingt, als ob Sie mehr Menschen in der Pflege haben als in „normalen" Altenheimen, denn solch ein Umgang mit den Menschen ist ja sehr arbeits- und zeitintensiv?
Die genannten Aspekte sind keine Frage der Zeit, sondern der inneren Haltung. Hier kommt die Anthroposophie in der Ausbildung und in der Praxis zum Tragen. Wenn man nicht gegen (nach „Plan und Vorschrift") die alten Menschen arbeitet, sondern mit ihnen aus der Menschenkenntnis heraus (als Lebensbegleiter), geht alles reibungsloser. Und das macht Freude statt Ärger.
Was sind die größten Unterschiede zwischen einer anthroposophischen Pflegeeinrichtung und einer „konventionellen"?
Sicherlich auf den ersten Blick die wunderschöne Architektur und die Farben an den Wänden, die den Rahmen setzen und die wichtige Hülle prägen. Unsere Häuser sind keine „Aufbewahrungsanstalten", sondern schöne Räume, in denen man gerne ist, die einen anregen und etwas Innerliches in Gang setzen. Der Ton ist anders, die Menschen dürfen „frei herum laufen". Es gibt auch keine „Stationen A-B-C", sondern wir haben die Bereiche Arnica, Betula und Calendula. Es riecht nicht nach Krankenhaus und Urin, und die Menschen werden nicht wie Insassen „verwahrt". So behalten sie ihre Individualität und gehen dieser auch nach und dürfen sie leben. Wenn z.B. eine Frau immer wieder Tulpen in die Vase stellt und sie wieder heraus nimmt, immer und immer wieder, das ist doch wie das Leben. Das Leben ist unser bester Lehrmeister.
Und natürlich haben wir Angebote wie Singkreise, Malen, künstlerische Therapien, Biographiearbeit, Literaturkreis, Evangelienkreis, Gottesdienste, Physiotherapie oder rhythmische Einreibungen. Damit erreichen wir Menschen, die sich nicht mehr artikulieren oder orientieren können, auf eine ganz andere Art und Weise. Gerade durch die rhythmische Einreibung kann ich in der Pflege Menschen beruhigen, entspannen oder anregen, das ist ganz wunderbar.
Im Garten vom Haus Aja Textor Goehte
In Altenheimen ist die Begegnung mit dem Tod ja eine sehr häufige. Haben Sie eine Sterbekultur im Haus Aja Textor-Goethe?
Auf jeden Fall. Da ist die Anthroposophie eine ergiebige Quelle, gerade weil es die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod und von Karma gibt. Das nimmt dem Tod seinen Schrecken. Mit dem Tod ist der Mensch „über die Schwelle" gegangen, er hat es geschafft, da gibt es kein schwarzes Loch. Neben der Kapelle ist ein Aufbahrungsraum, wo wir uns von den Verstorbenen verabschieden können. Die Bewohner des Hauses tun das sehr gerne. Und sehr oft haben wir die Trauerfeiern auch bei uns im Haus, weil die Menschen ja viel Zeit hier verbracht haben und alle von ihnen Abschied nehmen möchten. Die geistige Welt ist Realität und wird erfahrbar. Statt durch eine Hintertür wird der Sarg durch den Haupteingang hinaus getragen.
Was ist das Besondere an Ihrer Ausbildung?
Anthroposophie hat nichts mit einer Mission zu tun, sondern es ist ein innerer Schulungsweg, den jeder für sich geht. Das ist kein Programm, was ich einfach erlernen kann. Wenn es so verstanden wird, funktioniert es nicht. Im Pflegeberuf ergeben sich unerschöpfliche Übungselemente, z.B. immer wieder mit Geduld dieselben Dinge mit Liebe zu tun. Als Pflegende sind wir nicht „die großen Macher", sondern bereiten Situationen möglichst so auf, dass Heilung eintreten kann.
All das verlangt viel Einsatz von den Menschen. Es gibt übrigens fast niemanden mehr, der Vollzeit arbeitet. Die Pflege ist heutzutage so durchgetaktet, das schafft keiner mehr in Vollzeit. Man braucht viel mehr Regenerationszeit, sonst lässt die seelische Spannkraft nach. Als Schutz vor Burn-out halte ich Kursangebote, wie z.B. Biographiearbeit, für sehr wichtig. Das ist zum einen ein vielseitiges Handwerkszeug, um die Menschen, die ich pflege, besser zu verstehen. Es ist aber auch wichtig, um meine Motivation für den Beruf als Pfleger:in zu ergründen. Ich darf mich z.B. nicht als Wohltäter der alten Menschen verstehen, sondern brauche eine gesunde, reflektierte und professionelle Haltung zu meinem Job.
Sie sprechen von der Durchtaktung der Pflege. Haben Sie Forderungen an die Politik?
Mehr Bezahlung. Wobei mehr Bezahlung auch immer gleich mehr Forderungen nach sich zieht. Eigentlich glaube ich nicht an das Konzept Politik, sondern an die Initiative des Einzelnen. Aber natürlich gibt es auch den Verband für anthroposophische Pflege e.V., der Forschung betreibt und sich politisch für mehr Anerkennung der Pflegenden engagiert.
Und wo gibt es Grenzen anthroposophischer Pflege?
Da gibt es die Dummheit der Menschen. Zum Beispiel Menschen, die auf persönlichen, nicht fundierten Meinungen beharren. Ich habe das z.B. immer wieder in der Diskussion mit Angehörigen erlebt, die dann ihre sterbende Mutter oder Vater aus Angst vor dem Tod noch ins Krankenhaus verlegen wollen, und ich sie gefragt habe: „Was erhoffen Sie sich davon? Glauben Sie, dass ist gut für Ihre Mutter?" Im Krankenhaus greift die Maschinerie, da werden die Menschen nur an Schläuche und Apparaturen gelegt. Dabei wollen sie doch einfach nur in Ruhe und ohne Angst sterben. So werde ich zur Sterbebegleiterin für die Angehörigen.
Es ist wichtig, immer wieder zu fragen, was genau ist förderlich für den Menschen? Zum Beispiel wollen viele Sterbende sich noch einmal aufrichten, weil sie in der aufrechten Haltung am besten bei sich sind und vor dem Sterben wollen sie noch einmal „Ich" sein. So versuchen wir, auch bettlägerige und schwache Menschen, einmal am Tag in eine aufrechte Haltung zu bringen. Aus dieser Haltung heraus trifft der alte Mensch selber die Entscheidung, ob er diesen Tag noch einmal ergreift oder ob er jetzt gehen will. Da hilft der anthroposophische Ansatz sehr. Und wir leben doch nicht, um Dinge zu vermeiden, sondern um Erfahrungen zu machen. Das Ziel könnte eben auch sein, schön zu sterben. Dann kommt man als Pflegender nicht „kaputt" nach Hause, sondern mit neuen Erfahrungen.
Liebe Frau van der Star, ganz, ganz vielen Dank für diese wunderbaren Eindrücke!
Silke Stremlau