Pflege 2.0
Herr Matt, Sie betreiben ein – aus unserer Sicht ganz besonderes – Pflegeheim. Was unterscheidet Ihre Einrichtung von anderen?
Alexis Carrel, Nobelpreisträger und Chirurg, hat 1912 gesagt: „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben zu schenken." Diese Weisheit begleitet mich schon mein ganzes Berufsleben lang und ist so auch eine der Grundlagen unserer Hausphilosophie.
Wir arbeiten für und mit Menschen, achten und motivieren uns gegenseitig in besonderer Weise und arbeiten gemeinsam an der Umsetzung unserer eigenen Ansprüche. Besonders die Themen: Würde, Selbstbestimmung, Aktivität, Innovation, Qualität, Gemeinschaft und Wohlfühlen liegen uns am Herzen und verfolgen wir in allen Bereichen unseres Hauses sehr konsequent. Selbst die bauliche Struktur des Hauses ist auf diese Themen abgestimmt und bietet so eine ideale Grundlage, um jedem Tag des Lebens einen „Mehrwert" zu schenken.
Wenn Sie zurückblicken: Was hat sich in den vergangenen Jahren in Ihrer Arbeit verändert?
In den letzten 25 Jahren hat sich die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen in Deutschland stetig verbessert. Wir waren somit aber auch dauerhaft befasst mit der Umsetzung gesetzlicher Veränderungen, die unterm Strich sinnvolle Verbesserungen für Bewohner:innen und Mitarbeitende gebracht haben.
So sind Qualitätsstandards verbessert, Mehrbettzimmer abgeschafft, der Personalschlüssel mehrfach angepasst, zusätzliche Betreuungskräfte und zusätzliche sogenannte „Spahnstellen" eingeführt worden. Auch die Vergütung von Mitarbeitenden ist verbessert und die Pflegeausbildung aufgewertet und sogar akademisiert worden.
Trotz der großen Anstrengungen der Politik in den letzten Jahren bleiben viele Probleme noch ungelöst und ich gehe mal davon aus, dass uns die Reformprozesse auch in den kommenden Jahren viel Kreativität und Veränderungsbereitschaft abverlangen werden.
Und wo liegen für Sie die besonderen Herausforderungen?
Die besonderen Herausforderungen liegen darin, allem gerecht zu werden, vor allem seinen eigenen Ansprüchen – was zugegebener Maßen nicht immer einfach ist. Auch das Wissen darum, dass man tagtäglich eine große Verantwortung für Bewohner:innen, Angehörige und Mitarbeitende und auch für die gesamte Gesellschaft trägt, ist nicht immer leicht. Um dies dauerhaft schaffen zu können, darf man die Balance zwischen Arbeit und Ausgleich nie aus den Augen verlieren.
Zwei Themen haben viele Pflegeheimträger in den letzten Jahren bestimmt an den Rand ihrer Belastungsgrenzen gebracht: die Sorgen und Mühen um genügend Fachpersonal in der Pflege und die Bewältigung der Coronapandemie. Solche gewaltigen Herausforderungen sind nur mit einem guten Führungsteam zu bewältigen – dauerhafter Erfolg ist nämlich nur im Team möglich. Mit (ein wenig) Stolz kann ich sagen, dass ich im PZH immer auf mein Team zählen kann und nie alleine bin.
Mit viel Spaß in Bewegung bleiben
Herr Matt, Sie sind ja auch außerhalb Ihrer eigenen Einrichtung sehr aktiv, was treibt Sie dabei an?
Ich möchte andere teilhaben lassen an meinen kreativen Ideen, aber auch von anderen lernen. Nur wenn wir verstehen, dass wir profitieren von den Erfahrungen aller, können wir Pflege weiterentwickeln und die großen Herausforderungen der Zukunft gemeinsam meistern. Daher bin ich oft in anderen Einrichtungen unterwegs, versuche dort zu beraten und zu helfen wo es geht, aber auch berufspolitisch tätig zu sein, um die Erfahrungen aus den Einrichtungen in die Entscheidungen der politischen Gremien mit einfließen zu lassen.
Regional konnten wir z.B. in den vergangenen Jahren das Konkurrenzdenken zwischen den Einrichtungsträgern komplett abbauen. Wir arbeiten hier mit den unterschiedlichsten Trägern sehr eng, vertrauensvoll, gar freundschaftlich zusammen. Wir unterstützen uns gegenseitig und beraten uns regelmäßig in allen Fragen der täglichen Arbeit.
Seit zwei Jahren leben wir alle in und mit einer pandemischen Lage, die besondere Anforderungen an uns alle stellt. Wie erleben Sie diese Zeiten? Welche besonderen Lösungen haben Sie gefunden?
Wir haben in der Pandemie sehr schnell gelernt, dass wir auf uns alleine gestellt sind und vor Ort eigene, schnelle Lösungen für die jeweilige Situation schaffen müssen. Meist waren wir dabei den politischen Vorgaben voraus.
Bereits in den ersten Wochen der Pandemie haben wir ein digitales Netzwerk mit Angehörigen und Mitarbeitenden aufgebaut, über das wir intensiv kommunizieren und informieren konnten. Sowohl fachliche wie auch organisatorische Infos konnten wir über diesen Weg schnell verbreiten und Rückfragen wurden von uns sehr zeitnah und rund-um-die-Uhr beantwortet. Unsere Maßnahmen haben wir so transparent gemacht und für eine gemeinsame Pandemiebewältigung geworben. Schon früh konnten wir in unserem Haus sowohl bei Bewohner:innen als auch beim Personal eine 100%ige Impfquote vorweisen, was uns durch die gesamte Pandemiezeit hinweg nur sehr wenige positive Fälle beschert hat.
In den ersten Monaten der Pandemie wurde auch im TV über unser Haus berichtet, da wir innerhalb weniger Tage ein Besucherhaus mit Plexiglasscheibe gebaut hatten, um den Bewohner:innen trotz allgemeiner Besuchsverbote Besuche zu ermöglichen.
Auch das regelmäßige Testen von Bewohner:innen, Angehörigen und Personal haben wir schon vor der gesetzlichen Pflicht einführen können und darüber hinaus haben wir ein Laborgerät angeschafft, mit dem wir den Antikörperstatus bestimmen können. Viele Mitarbeitende haben dieses kostenlose Angebot von uns angenommen, um ihre persönlichen Impftermine darauf abzustimmen.
Musikalische Veranstaltungen für Bewohner:innen haben wir im Freien durchgeführt – mit notwendigem Abstand und anstatt Personalfeiern haben wir Alternativen angeboten wie Frühstückskorb für jeden Mitarbeitenden, persönliche Gutscheine für Restaurants, Fahrradtour in die Natur und andere kleine Motivationsspritzen.
Die Mitarbeitergewinnung ist bekanntlich nicht einfach, mit welcher Strategie begegnen Sie der schwierigen Suche nach neuen Kolleg:innen?
Schon lange zeichnet sich ab, dass wir in Deutschland ohne den Zuzug ausländischer Pflegefachkräfte die Pflege nicht mehr in ausreichendem Maße gewährleisten können. Vor einigen Jahren haben wir uns deshalb auf den Weg gemacht, Konzepte für eine erfolgreiche Einwanderung und Integration zu entwickeln. Wir haben eine eigene Personalvermittlungsfirma gegründet (nur für den eigenen Bedarf), die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt und die notwendigen Kontakte ins Ausland geknüpft hat. Wir haben Anerkennungslehrgänge zusammen mit den Pflegeschulen vor Ort entwickelt und 20 Personalwohnungen in unmittelbarer Nachbarschaft gebaut, um Mitarbeitenden auch eine Wohnung anbieten zu können. Ein Deutschlehrer, den wir geringfügig beschäftigt eingestellt haben, kümmert sich neben der notwendigen Sprachschule um zusätzliches Deutschlernen direkt in unserer Einrichtung. Bereits früher zugezogene Mitarbeitende aus dem Ausland kümmern sich um die soziale Integration. Das Konzept funktioniert seit Jahren sehr gut, wir machen unsere Erfahrungen damit und entwickeln es von Jahr zu Jahr weiter.
Ich persönlich finde es auch für mein Leben sehr bereichernd, mit Menschen anderer Kulturen und Religionen zusammen arbeiten zu dürfen. Es schafft Respekt und Wertschätzung untereinander, was wir auch in Anbetracht der aktuellen Geschehnisse in der Welt überall gut gebrauchen könnten.
Wie ich Sie kenne, haben Sie bestimmt eine Vision für die nächsten Jahre ... Was haben Sie kurz- bis mittelfristig vor?
Aktuell stehen gerade die Themen „Digitalisierung in der Pflege" und die Umsetzung des Tariftreuegesetzes an. Für die Zukunft möchte ich weiter dabei mithelfen, dass die „Pflege" einen besseren Ruf bekommt – sie hat es nämlich verdient. Ich kenne kaum einen anderen Beruf, der so erfüllend ist und bei dem man für sein eigenes Leben so viel lernen kann, wie der Pflegeberuf. Wir würden uns daher freuen, wenn wieder mehr Menschen diesen Beruf erlernen würden, besonders jene, die empathisch, ehrgeizig, offen, zielstrebig und fachlich interessiert sind.
Gibt es Wünsche oder Forderungen an die Politik?
Welche Rahmen bedingungen/Reformen sind notwendig, um den steigenden Pflegebedarf abzudecken?
Die Behörden müssen unbedingt schneller werden, wenn es darum geht, Fachkräfte aus dem Ausland in den deutschen Markt zu bringen. Meist dauert immer noch ein bis zwei Jahre, bis es zum Zuzug kommen kann. Das geht auf alle Fälle noch besser.
Als zweiten Wunsch hätte ich, die eigentlich politisch gewollte Entbürokratisierung in der Pflege ernst zu nehmen. Diese war mal auf einem ganz guten Weg, in der Zwischenzeit haben aber viele Anforderungen unsere Dokumentation wieder unnötig aufgeblasen.
Als dritten Wunsch hätte ich, die vielen Prüfungen in Pflegeeinrichtungen zu reformieren. Sie spiegeln nicht den tatsächlichen Qualitätsstatus in den Einrichtungen wider und machen nur Druck auf das Führungspersonal, was diese wieder aus dem Beruf drängt. Eine Kultur des Vertrauens, der Beratung und der Begleitung sollte die derzeitige Prüfpraxis ersetzen.
Vielen Dank für diesen wunderbaren Einblick in Ihren Alltag!
Susanne Schulze